Sexuelle Belästigung: Betroffene besser verstehen

Interview
Wieso fühlen sich Betroffene von sexueller Belästigung häufig schuldig und haben Schwierigkeiten, über das Geschehene zu sprechen? Oder warum ist es wichtig – unabhängig ob selbst betroffen oder nicht – über dieses Thema zu sprechen und aufzuklären? In diesem Interview mit der ehemaligen Kriminalkommissarin Ulrike Leimanzik werden diese und weitere Fragen beantwortet.
Bist oder warst du von sexueller Belästigung betroffen – oder kennst eine akut betroffene Person? Dann kontaktiere die hier hinterlegten psychologischen Ansprechpersonen oder eine externe Beratungsstelle, wenn du mit jemandem (anonym) sprechen möchtest. Beachte bitte außerdem, dass in diesem Gespräch Täter:innen oft in männlicher und Betroffene in weiblicher Form angesprochen werden. Trotzdem gibt: Jedes Geschlecht kann sowohl Täter:in, als auch Opfer sein – alle Kombinationen sind möglich.

Können Sie aus Ihrer Erfahrung schildern, wie Ihnen Betroffene begegnet sind und deren Gefühlslage beschreiben?

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, mein Kollege der Sozialpädagoge und ich wurden von einer Amtsleiterin eines Amtes einer großen Stadt um Unterstützung gebeten, weil die Leiterin recht neu war, und ihr dann zu Ohren gekommen ist, dass es einen älteren Kollegen gab, der über Jahre junge Kolleginnen belästigt hat, auch sexuell belästigt hat. Und da sind mein Kollege und ich hingefahren. Einige der jungen Frauen hatten längst schon gekündigt, einige hatten überhaupt nicht den Mut, sich mit uns zusammenzusetzen. Es waren bei dem ersten Gespräch fünf junge Frauen, die dann berichtet haben und da war ich so erschrocken. Und ganz viele andere haben gesagt: „Mein Gott, das ist doch gar nicht so dramatisch, die sollen sich nicht so anstellen.” Er hat sie systematisch erniedrigt, immer wieder auf Fehler hingewiesen, sodass sie irgendwann ganz verunsichert waren. Dann hat er auch gesagt: „Wenn das so weitergeht, dann droht die Kündigung.” Und das waren alles junge Frauen, die gerade anfingen im Beruf, natürlich Angst hatten, weil sie teilweise in der Probezeit waren. Und das hat er systematisch gemacht. Und es kamen auch sexuelle Belästigungen hinzu, Sprüche, die er dann losgelassen hat und das regelmäßig. Diese jungen Frauen, die waren so verunsichert, so verängstigt. Der Mann war zwischenzeitlich suspendiert worden, aber alle hatten Angst, dass er irgendwann doch wieder zurückkommt. Und wenn man das einmal erlebt, Menschen, die durch Worte so völlig fertig gemacht werden, also dann ist das schon wahnsinnig erschreckend.

Können Sie beschreiben, was das für Auswirkungen auf die Betroffenen hatte, mit denen Sie Kontakt hatten?

Das Allerschlimmste ist, dass der Mann es geschafft hatte, wirklich jede Frau für sich zu isolieren. Die haben gar nicht mitgekriegt, dass sie gar nicht die Einzigen waren, aber das glaubten sie. Jedes Opfer glaubt, auch bei anderen Sexualdelikten, es ist wirklich das einzige Opfer auf der Welt. Und da ist es eben ganz, ganz wichtig, diese Strategie des Täters zu durchbrechen und darüber zu reden. Denn die haben es irgendwann gemacht und dann mit Entsetzen festgestellt: „Ja, wir sind ja eine recht große Gruppe.” Und trotzdem war der Schaden da, die Verunsicherung da, die Ängste waren da. Viele haben auch psychologische Hilfe in Anspruch genommen.

Hat das bei den Betroffenen einen Unterschied gemacht, dass Sie dann gemerkt haben, es gibt auch noch andere, die sogar von demselben Täter belästigt wurden?

Es war, so haben mir alle das geschildert, zwar zum Teil eine Beruhigung, so nach dem Motto: „Ich bin ja doch nicht alleine”, aber da rauszukommen, das haben sie immer noch nicht gesehen und hatten einfach Ängste. Und da muss ich sagen, war die Amtsleiterin super, sie hat ihnen alle möglichen Hilfen gegeben, damit die Frauen da wieder so ein Stück Sicherheit bekommen konnten.

Es gibt ja auch noch andere Gefühle, wie zum Beispiel Schuld oder Scham, die Opfer empfinden. Können Sie beschreiben, warum das so ist?

Das ist grundsätzlich so, dass bei einer Tat die Schuld beim Täter liegt und nicht beim Opfer. Aber auch das gehört zur Strategie des Täters, nicht nur die Isolierung des Opfers, um dann wirklich ganz in Ruhe weiterzumachen, sondern auch eigentlich die Opfer-Täter-Konstellation umzudrehen. Der Täter suggeriert dann dem Opfer: „Ja, du bist ja schuld. So wie du immer da ins Zimmer kommst, so wie du auftrittst, so wie du guckst, so wie du gekleidet bist, ja, da bist du schuld, da kann ich doch gar nicht anders.” Und das ist etwas, das irgendwann greift. Und da fühlen die Menschen sich dann schuldig und trauen sich erst recht nicht, jemandem anderen davon zu erzählen.

Bedeutet das, dass Täter:innen es oft schaffen, diese Zweifel bei den Betroffenen selber zu säen, sodass sie sich irgendwann selber hinterfragen? Also diese Fragen wie: „Hätte ich mich anders anziehen können? Hätte ich mich anders verhalten sollen? Hätte ich vielleicht nicht lächeln sollen?”

Genauso. Da kommen die irgendwann hin, dass sie das dann auch offen sagen: „Ja, ich bin ja selber schuld. Ich habe mich ja im Sommer sehr freizügig angezogen.” Wobei das, wenn ich da mal eben auf die Kleidung kommen kann – Jeder Mensch soll sich so kleiden, wie er möchte. Natürlich muss man in der Berufswelt gucken, dass das angemessen ist. Aber das ist dann Sache der Vorgesetzten. Wenn jemand unangemessen zur Arbeit, zum Dienst kommt, da dann einzuschreiten und zu sagen: „Bitte ein bisschen anders kleiden.” Aber es gibt niemanden das Recht, aufgrund der Kleidung jemanden zu belästigen.

Wieso ist es denn häufig so, dass auch viele Außenstehende den Betroffenen schuld zuweisen?

Und das ist auch ganz, ganz fatal. Das liegt an mehreren Faktoren. Zum einen wissen noch nicht alle, was sexuelle Belästigung bedeutet, welche Auswirkungen das hat. Zum anderen ist es manchmal falsch verstandene Kumpanei: „Ach, das ist doch ein alter Kollege, der steht doch kurz vor der Rente und mein Gott, der ist eben einfach so.” Dass man das Ganze belächelt und abtut und abschwächt, ohne zu erkennen, dass das eine Straftat und da ein Opfer ist, was leidet.

Das heißt, es wird im Prinzip unterstützt oder es wird einfach gar nichts dazu gesagt?

Also, im Grunde genommen zumindest der Täter empfindet das als Unterstützung, weil er genau weiß, egal was er macht, die anderen Kollegen und Kolleginnen, die halten zu ihm. Und dann ist es mehr so, die junge Kollegin oder der junge Kollege, der ganz neu ist im Team, der dann plötzlich sagt „Also, ich fühle mich belästigt, ich fühle mich sexuell belästigt”, der dann wirklich niedergemacht wird: „Stell dich nicht so an!”, „Das war doch überhaupt nichts” und „Das ist doch alles nur Spaß.”

Wissen denn Betroffene immer, dass es sich bei diesen Vorfällen um sexuelle Belästigung handelt?

Wenn sie sich schon informiert haben über das Phänomen sexuelle Belästigung, klar, dann können sie das einordnen, aber selbst wenn sie davon noch nichts gehört haben oder sich mit dem Thema noch nicht befasst haben, sie fühlen sich schlecht. Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl, was sich immer mehr verstärkt, je öfter sich das wiederholt. Und spätestens dann, wenn sie Schlafstörungen und Magenbeschwerden bekommen, ist ihnen klar: „Ja, das, was da von dem anderen immer kommt, das verstärkt mein Leiden.”

Können wir grundsätzlich immer sagen, dass wenn wir ein ungutes Gefühl in einer Situation haben, es sich eben auch in dem Fall z.B. um sexuelle Belästigung handeln kann? Also, dass das Bauchgefühl schon ein gutes Indiz ist?

Ja, ja, also wir Menschen sollten wirklich auf unser Bauchgefühl hören, das ist unser natürliches Alarmsystem. Kinder haben das ganz, ganz klar noch. Die sagen dann ganz schnell: „Nee, da will ich nicht hin, der guckt so komisch” oder „Die spricht so komisch.” Wir Erwachsenen neigen dazu, dieses Bauchgefühl zu ignorieren und wegzuschieben. Und das sollten wir nicht. Wenn wir in einer Situation sind, wo der Bauch sagt: „Hier ist etwas nicht in Ordnung, ich fühle mich unwohl”, dann sollten wir zusehen, dass wir rausgehen aus dieser Situation, wenn das möglich ist.

Ich glaube, das ist auf jeden Fall immer ein guter Tipp für eigentlich fast alle Situationen, in denen wir uns im Leben befinden.

Und es wäre dann bei einer einmaligen Belästigung oder ersten Belästigung auch gut, wenn sich jeder dann trauen würde, laut zu werden und zu sagen: „Nehmen Sie die Hand von meinem Po!”, „Fassen Sie mich nicht an!” oder „Halten Sie Abstand!” Und das eben ganz energisch, ohne zu lächeln. Wir Frauen lächeln leider immer und schwächen dadurch dann mit unserer Körpersprache das, was wir sagen, wieder ab. Und in so einer Situation, wo wir uns belästigt fühlen, da müssen wir wirklich ernst bleiben, uns groß machen und dann klar und deutlich „Stopp!” sagen.

Gibt es noch etwas anderes, was Sie sowohl denen, die bereits betroffen sind, als auch allen anderen, mitgeben möchten?

Das Wichtigste ist, sich wirklich über dieses Thema zu informieren, damit man weiß, was gehört zur sexuellen Belästigung. Und sich dann auch zu überlegen: „Wo kann ich hingehen?” und „Wo kann ich Hilfe bekommen?”, abgesehen von der Anzeige. Also, das ist nochmal wieder ein schwerer Schritt für Betroffene, dann zur Polizei zu gehen. Aber zu einer Beratungsstelle zu gehen oder zu einer Psychologin zu gehen oder mit dem Hausarzt, wenn man zu dem Vertrauen hat, mit dem zu reden. Sich einfach zu öffnen, um dadurch dann im Schulterschluss mit vielen zu gehen und dann nicht mehr alleine zu sein. Das wäre sehr wichtig.

Das heißt unterm Strich, reden hilft?

Reden hilft immer, ja. Schweigen ist schlecht, denn das unterstützt einfach den Täter, denn das ist ja genau das, was er will. Aber sobald ich darüber rede, durchkreuze ich ja schon seine Strategie und das sollten wir machen.

Das waren ein paar erste Einblicke in die Perspektive von sexueller Belästigung betroffener Menschen. Wenn du mehr zu möglichen Handlungsempfehlungen oder generell mehr zu diesem Thema erfahren möchtest, schau gerne in die weiteren Interviews und Beiträge hier in der Mediathek.
Dieser Artikel wurde von Evermood erstellt und zuletzt am aktualisiert.
Kassel

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